Sonstiges

Hullerner Landluft für Kinder und Mütter. Kinder- und Erholungsheim der Stadt Herne in Hullern (1921-1949)

Die Folgen der unzureichenden Ernährung am Ende des 1. Weltkrieges, die sich besonders in den Ruhrgebietsstädten bemerkbar machten, gaben damals neben den konfessionellen Verbänden vor allem den Kommunen Veranlassung, Kinder in den Sommermonaten auf dem Lande unterzubringen.

Kommunale Sorge für die Kinder

Auch die Stadt Herne kam der Notwendigkeit solcher heilenden und vorbeugenden Sorge nach und richtete im Jahre 1919 eine sogenannte Ferienkolonie für Kinder u.a. in Hullern (Saal Wilms und Schulraum/altes Spritzenhaus) ein.
Schnell reifte der Plan, in der kleinen Gemeinde statt der mehr oder weniger improvisierten Einrichtung ein eigenes Kindererholungsheim zu errichten.
Anfang 1921 wurde eine von der Militärverwaltung erworbene Doppelbaracke auf einem am östlichen Dorfrand für längere Zeit gepachteten Grundstück aufgestellt und entsprechend eingerichtet. Ab Mai konnten jeweils 80 Kinder für vierwöchige Kuren Aufnahme finden. In den folgenden Jahren wurden etliche Modernisierungs- und Anbauarbeiten durchgeführt, um zusätzlich die Möglichkeit zu haben, ganze Schulklassen mit ihren Lehreren aufzunehmen.

Baracke 1921

Nachdem die Stadt Herne das Pachtgrundstück von 11 ¾ Morgen dem Besitzer Landwirt Hering für 26000 Mark abgekauft hatte, konnte 1928/1929 das Heim durch den Bau zweier massiver zweistöckiger Häuser erweitert werden. Zwischen den Häusern lag später die Turnhalle.

Erweiterung 1928/1929

Mittlerweile hatte der Gebäudekomplex die Hullerner Haus-Nr. 52 anstelle des 1919 abgebrannten Wohnhauses der Familie Bültmann erhalten.

Haus-Nr. 52

Im Wechsel der Zeiten

In der Folgezeit traten aber Rückschläge ein: Die Erholungsstätte musste 1931 nach den Herbstferien aus finanziellen Gründen geschlossen werden; bis dahin hatten insgesamt 885 Kinder an 20 Kuren teilgenommen.

Übernahme durch die NS-Volkswohlfahrt Anfang Juni 1934

Bis zur Übernahme durch die NS-Volkswohlfahrt Anfang Juni 1934 war die schmucke Einrichtung zeitweilig von der „Interessengemeinschaft für Arbeit und Siedlung“ angemietet. Bis zu 120 junge Arbeitsfreiwillige fanden hier Unterkunft und konnten in den Borkenbergen mit der Urbarmachung des Heidebodens beschäftigt werden.

Über die Umwandlung in eine Erholungsstätte für erholungsbedürftige Mütter aus Herne und Wanne-Eickel und über die feierliche Übergabe berichtet die Herner Zeitung ausführlich in ihrer Ausgabe vom 09.06.1934. In seiner Ansprache betonte der Oberbürgermeister, dass die Stadt gerne dem Antrag der NSV auf Übernahme stattgegeben habe, da der nationalsozialistische Staat die Bedeutung und den Wert der Mutter für das Volksganze und für die Volksgesundheit zu schätzen wisse. „In der gesunden Mutter erblicke er die Keimzelle der gesunden Familie, und es könne nicht genug getan werden, um die Gesundheit unserer Mütter - hier in der frischen Landluft - zu kräftigen und zu fördern.

Im gleichen Sinne wandten sich auch der Gauamtsleiter der NS-Volkswohlfahrt Westfalen-Süd und die Gauleiterin der NS-Frauenschaft an die ersten 50 eingeladenen Mütter. Die NS-Frauenschaft „werde durch Veranstaltung von Vorträgen und Darbietungen belehrenden und unterhaltenden Charakter dafür sorgen, daß die Insassen des Mütterheimes auch in dieser Hinsicht nachhaltige Eindrücke von Hullern mit in ihre Heimat nehmen.“

In dem Halterner Adressbuch von 1931 und 1938 sind die Namen der damaligen Heimleiterinnen angegeben: Eugenie Böcker bzw. Else Millner.
Wie viele Mütter in den ersten Kriegsjahren hier noch zur Kur verweilten, ist nicht mehr bekannt.

Luftbild

In der Hullerner Schulchronik ist nachzulesen, dass die 3. Lehrerstelle am 01.06.1942 wegen geringer Kinderzahl aufgehoben wurde. „Am 04.02.1943 beschloß die Gemeindevertretung, daß die 3. Stelle für die Schulkinder im NSV-Kinderheim (verwahrloste Kinder aus dem Gau Westfalen-Nord) wieder eingerichtet wird. Lehrer Eberhardt führte die Klasse. Durch Regierungsverfügung vom 01.07.1943 wurde diese 3. Schulstelle wieder aufgehoben.“

Beschlagnahmung durch die SA

Der Zeitpunkt dieser Verfügung mitten im Krieg verwundert nicht, denn im gleichen Atemzug wurde das Heim von der Leitung der SA-Gruppe Westfalen beschlagnahmt und dort ein Befehlsstand eingerichtet.
Die RN berichteten am 27.04.1996 schon einmal über den Personenkreis, der in den letzten Kriegsjahren z.T. In geheimer Mission zum Einsatz kam:
SA-Mitglieder u.a. des Stabes und der Standarte Dortmund, Angehörige des SS-Regiments „Feldherrnhalle“ und Beamte der Regierung Münster, - alles Funktionsträger in leitender Position. Ein kleiner Teil ihrer Mitarbeiter(innen) war auch im Dorf einquartiert.
Um die mehr oder weniger geduldeten „Gäste“ vor den auch hier auf dem Lande zunehmenden Bomben- und Tieffliegerangriffen zu schützen, wurde 1943/1944 neben den mittlerweile 5 Baracken ein Hochbunker von Dienstverpflichteten der NS-Organisation „Todt“ gebaut.

Lage 1943/44

Zwei Tage, bevor am Morgen des 29. März 1945 amerikanische Panzer über die Weseler Straße in Haltern einrollten, setzten sich alle „Heimbewohner“ aus Hullern in Richtung Lüdinghausen ab.

Russisches Gefangenenlager

In den Nachkriegswochen waren von den Alliierten in die leer stehenden Baracken 630 russische Kriegsgefangene mit ihrem Kommandanten eingewiesen.
Hullern war infolge seiner Randlage zum Ruhrgebiet prädestiniert für eine solche
Massenunterbringung, die in den (Groß)städten wegen ihres hohen Zerstörungsgrades und ihrer Verpflegungsengpässe kaum noch möglich war.
Mitte Juni 1945 begann der erste Rücktransport der sowjetischen Gefangenen.
Auf dem alten Friedhof im Dorf fanden 5 im Lager verstorbene Russen ihre letzte Ruhe.
Nach der behördlichen Freigabe des Geländes beschloss die Stadt Herne, das Grundstück zu veräußern, da die Wiedereinrichtung des Heimes und die „Entmilitarisierung“ des Hochbunkers zu hohe Unkosten verursachen würden.

Besitzerwechsel

Die Gemeine Hullern erwarb im August 1949 das ganze Objekt zu einem Preise von 24000,- DM,
um dort später ein Schulgebäude zu bauen. Die Errichtung einer neuen Schule war notwndig, weil das alte Gebäude aus dem Jahre 1911 mit Schulhof und sanitären Anlagen den Anforderungen der Zeit nicht mehr genügten.
Die beiden vom Heim übrig gebliebenen massiven zweistöckigen Häuser wurden (mit der Haus-Nr. 117 und 118) vermietet und später verkauft.
Nachdem die Dorfjugend in den Sommermonaten des Jahres 1951 in eifriger Arbeit unter Mithilfe der Gemeindevertretung auf dem ehemaligen Gelände des Heimes einen idealen Sportpltz geschaffen hatte, konnte ein halbes Jahr später der Sportverein DJK „Wacker“ Hullern gegründet werden. Vorsitz und Leitung hatte anfangs Lehrer Dirlik inne.
Am 11.12.1958 wurde gegenüber dem Hochbunker die neue Schule in einer Feierstunde der Gemeinde übergeben.
(Im Jubiläumsband „Haltern. Beiträge zur Stadtgeschichte“ aus dem Jahre 1988, S. 563 ist die Lage des ehemaligen Heimes/der SA-Baracken mit „Heute befindet sich dort der Sportplatz von Hullern“ falsch beschrieben. Bekanntlich liegt er weiter östlich, hinter dem Grundschulgelände.)

Senioren erinnern sich

Rar sind verständlicherweise die Erinnerungen aus den zwanziger Jahren. Der Vater von Gertrud Stüer (heute Hof Siemann), gelernter Schuster und Kötter, hatte laufend das Schuhwerk der Herner Kinder zu reparieren. Jeden Tag wurde Frischmilch mit einem Bollerwagen von Deinken/Schulze Kökelsum abgeholt.
Leiterin Schwester Eugenie führte ab 1928 ein strenges Regiment, zumal das junge weibliche Personal aus Herne bei der männlichen Dorfjugend großes Interesse hervorrief. Clemens Korste fand so in Emma Kruse, die in der Küche beschäftigt war, die Frau fürs Leben und avancierte zum Hausmeister.

Kochkurse 1933/34

1933/1934, als die Erholungsstätte vorübergehend nicht belegt war, wurden dort mehrere Kochkurse abgehalten. Anna Paschen besitzt tatsächlich von ihrem Kurs noch ein Foto. Manche Hullerner Hausfrau und Mutter verdiente in den Jahren für ihre Familie als Köchin im Heim ein Zubrot.
Auch von einigen handfesten Reibereien mit provozierenden SA-Angehörigen war die Rede. Vielen Senioren sind noch die nächtlichen Viehdiebstähle aus der „Russenzeit“ in Erinnerung.
Nachdem die Gemeindevertretung 1949 das Gelände aufgekauft hatte, führte Anton Nottenkämper den Abbruch der Baracken durch.

Manuskript teilweise veröffentlicht in: Halterner Zeitung, 27.06.1998